Was sagt die aktuelle Forschung zur Gruppenbildung von begabten Schülern?

von Prof. Karen B. Rogers*, übersetzt von Dr. phil. I Jean-Jacques Bertschi, Zürich

 

Im Jahre 1991 führte ich eine Meta-Evaluation der 13 Meta-Analysen durch, welche sich mit verschiedenen Formen von Leistungs- oder Niveaugruppen befassten. Obwohl keine dieser Analysen fehlerlos war, unterstützten die Resultate fünf allgemeine Grundsätze zur Gruppenbildung von begabten Schülern (vgl. die Zusammenfassung der Resultate der Meta-Evaluation in Tabelle 1). Die Grundsätze heissen:

Fassen Sie begabte Schüler gemäss ihrem Fähigkeits- bzw. Leistungsniveau zusammen, und dies während der Mehrzahl der Schulstunden und in allen schulischenKernbereichen. 

Bilden Sie auf der Elementarstufe eine Gruppe aus den besten 5-8 Schülern (“Cluster“ = Traube, Büschel) innerhalb des heterogenen Klassenzimmers.

Bieten Sie den ausgewählten Schülern zusätzliche und sorgfältig differenzierte Lerngelegenheiten an (Enrichment durch Tracking, ad hoc-Gruppen, Pull out-Angebote etc.). Nur durch die Gruppenbildung alleine entsteht noch kein messbarer Leistungszuwachs.

Bieten Sie den ausgewählten Schülern Möglichkeiten zum beschleunigten Lernen an (Acceleration durch Compacting, Beschleunigung in Einzelfächern, Telescoping, erhöhtes Lerntempo etc.). Nur durch die Gruppenbildung alleine entsteht noch kein messbarer Leistungszuwachs.

Gehen Sie sparsam um mit Unterrichtsmethoden für die ganze Klasse oder für gemischte Gruppen (wie etwa gemeinsames Lernen) – verwenden Sie diese am ehesten für die Gemeinschaftsförderung. Es gibt keine einzige stichhaltige Studie, welche einen positiven Einfluss dieser Methoden auf die Leistung begabter und leistungsstarker Schüler postuliert.

 

Neuerungen in der Forschungsarbeit seit 1992

 

Seit 1992 sind zwei weitere Meta-Analysen durchgeführt worden. Sie gelangen zu ähnlichen Schlüssen wie ihre Vorläufer. In der allgemeinen Forschungsliteratur finden sich 26 neue Einzelstudien. Interessant ist die Feststellung, dass die Fragestellungen dieser Studien nicht wesentlich von der Vorperiode abweichen – wir scheinen nach wie vor dieselben Fragen zur Gruppenbildung zu stellen, obwohl sich das Zielpublikum geändert haben mag. Der grösste Wandel in der Stossrichtung ist vielleicht das Interesse am Einfluss auf die Beziehungen zwischen den Schülern, wenn eine Gruppenbildung vorgenommen bzw. unterlassen wird.

Neun Schlussfolgerungen lassen sich aus der aktuellen Forschung ziehen:

 

Überdurchschnittliche Schüler profitieren schulisch mehr von Niveaugruppen als schwächere Schüler 

Homogene Gruppen schneiden bei allen schulischen Fähigkeiten besser ab als heterogene

Die Möglichkeit, im Stoff  kontinuierlich, d.h. ungebremst vorrücken zu können wirkt sich - für sich alleine - schulisch noch nicht aus. Wenn sie hingegen mit variablen Unterrichtsmethoden kombiniert wird, ist ein Effekt nachweisbar.

Lernen in kleinen Gruppen ist schulisch ergiebiger als Lernen in der ganzen Klasse 

Was mit den Schülern in der Gruppe wirklich gemacht wird (Unterrichtsqualität, Unterrichtszeit, Klassengrösse), hat einen direkten Einfluss auf die schulische Leistung – viel eher als das blosse  Einteilen in eine Gruppe

Partnerarbeit: Schwächere Schüler profitieren schulisch, wenn sie mit sehr leistungsfähigen Partner zusammengesetzt werden (neue, andere, vielfältige Gesichtpunkte). Beim Letzteren lässt jedoch kein analoger Effekt nachweisen

Leistungsfähige ebenso wie schwächere Schüler profitieren von intensiveren sozialen Kontakten, wenn man innerhalb der Klasse Niveaugruppen bildet

Schwächere Schüler werden weniger verhaltensauffällig und nehmen aktiver am Unterricht teil, wenn sie in einer Gruppe mit vergleichbaren Klassenkameraden zusammen sind 

Schwächere Schüler bauen tendenziell mehr Selbstvertrauen bezüglich ihrer Fähigkeiten auf, wenn sie  gemischten Klassen angehören, als wenn sie einer homogenen Gruppe für schwächere Schüler zugeteilt werden (Stigmatisierung?) 

 

Fazit

 

Die Erforschung der Gruppenbildung von Schülern wurde in den vergangenen fünf Jahren weiter vorangetrieben. Die festgestellten Wirkungen scheinen jedoch die früheren Studien zu bestätigen: Schüler mit hohen Begabungen und Fähigkeiten profitieren tendenziell am meisten von der Zusammenfassung in einer Gruppe, weil ihnen dieser Ansatz vermehrten Zugang zu anspruchsvollem Wissen und Können verschafft und ihnen erlaubt, komplexere Vorgehensweisen anzuwenden. Am ehesten kann dieser Zugang dann ermöglicht werden, wenn Lehrpersonen nicht dazu gezwungen sind, ihre pädagogischen Energien und Anstrengungen auf mehrere Gruppen mit grossem Leistungs- und Begabungsgefälle aufzuteilen. Keine neuere  wissenschaftliche Publikation hat Oakes (1985) Behauptung unterstützt, dass sich die „besseren“ Lehrkräfte auf die leistungsfähigsten Klassen konzentrieren.

 

In Übereinstimmung mit älteren Erkenntnissen scheinen sich auch schwächere Schüler auf einem höheren schulischen Niveau zu bewegen, wenn sie zusammengefasst werden – aber ihre Lerngewinne sind nicht so ausgeprägt wie jene der begabten Schüler. In der Zwischenzeit sind allerdings einige vielversprechende Studien über die optimale Grösse von Lerngruppen und deren Auswirkungen auf die Leistungen im Gange. Gegenwärtig wird vermutet, dass Partnerarbeit für schwächere Schüler äusserst hilfreich ist – und zwar sowohl für Paare mit ähnlichen wie für solche mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Mit etwas Glück mögen uns  weitere fünf Jahre Forschungsarbeit die Frage beantworten, welche Gruppenbildung für den Unterricht optimal ist. Bis es jedoch so weit ist, werden wir die jetzt vorliegenden Erkenntnisse bestmöglich nutzen müssen.