Im Gespräch mit Joe Renzulli

Joe Renzulli ist einer der führenden Forscher im Bereich Begabtenförderung. Er lehrt und forscht zurzeit an der Universität Connecticut (USA) im Bereich Identifikation und Einschätzung von Begabten. Im vorliegenden Interview diskutiert und reflektiert er seine neueste Forschung auf dem Gebiet der Begabtenförderung. Bekannt geworden ist Renzulli vor allem mit seinem 3-Ringe-Modell von Begabung.

 

Welchen Einfluss haben Tendenzen wie Integration und Mainstreaming auf die Begabtenförderung?

 

Diese Frage generell zu beantworten ist schwierig. Ich denke, alles in allem kann im Klassenzimmer gute Arbeit geleistet werden – bis zu einem gewissen Punkt. Aber da Regelklassenlehrpersonen es mit einer grossen Anzahl von Schüler/innen, einem breiten Spektrum unterschiedlicher Bedürfnisse und einem weiten Spektrum von Fähigkeiten zu tun haben, können sie nicht allzu weit vom vorgegebenen Curriculum abweichen oder das Tempo für schnell Lernende beschleunigen. Jene Art von individueller Arbeit, wie ich sie in meinen Schriften als «Type Three Enrichment» beschrieben habe, kann nur dann geschehen, wenn ein Spezialist oder ein Spezialistin zur Verfügung stehen, die wissen, wie man solche Arbeit anleitet und begleitet. «Type Three Enrichment» ist die höchste Stufe von Engagement, das ein Begabtenförderprogramm anzubieten hat, und das kann nicht einfach von einer Regelklassenlehrperson durchgeführt werden, die wahrscheinlich nicht über die notwendige Spezialausbildung verfügt und mit vielen Kindern mit unterschiedlichen Bedürfnissen arbeiten muss. Natürlich können Klassenlehrpersonen das lernen und ich habe Lehrpersonen gesehen, die es so gut oder besser machten als Spezialist/innen. Aber die Breite der Anforderungen, die an die Klassenlehrperson gestellt werden, macht es schwierig und in manchen Fällen unmöglich, dass sie die notwendige Begleitung übernehmen können.

 

Welches sind die zentralen Probleme in der Begabtenförderung zum Beginn des neuen Jahrtausends?

 

Ob Sie es glauben oder nicht, eines der entscheidenden Probleme sehe ich darin, wie wir die breite Öffentlichkeit und insbesondere die Politik besser informieren können über gute Programme und praktische Massnahmen. Es werden so viele Ansprüche ans Bildungswesen gestellt, dass es nahe liegt zu denken, dass begabte Schüler/innen «es schon alleine schaffen». Was mich immer wieder frappiert ist die Tatsache, dass Politiker/innen, die für Integration plädieren, wenig oder keine Spezialangebote wünschen und jede Initiative zur Begabtenförderung kritisieren, ihre Kinder oft auf Privatschulen schicken.

Ein anderer entscheidender Punkt ist, dass es ein abgestimmtes Kontinuum von speziellen Massnahmen braucht, nicht einen einzigen «Königsweg» (Akzeleration, Enrichment im Regelklassenunterricht, Pull-out-Programm, Sonderklasse etc.).

Neuerdings haben sich eine überwältigend grosse Zahl von Erziehenden dem Konzept «Differenzierung» verschrieben. Dies ist ein vernünftiges Konzept für den Unterricht ganz allgemein und sogar einige Befürworter der Begabtenförderung sagen, dass Binnendifferenzierung auch den fähigsten Schülerinnen und Schülern nütze. Dieser Glaube ist Unsinn. Ich habe dieses «wir-können-begabte-Schüler/innen-im-Regelklassenunterrichtbetreuen» schon mehrfach erlebt und jedes Mal erweist es sich als Nebelwand, hinter der gescheite Kinder einige Extra-Aufgaben erhalten und mehr Schularbeit nach traditionellen (didaktischen) Modellen leisten müssen. Ohne spezialisiertes Personal und differenzierte Lernangebote und Lernformen werden wir begabte Schüler/innen ernsthaft unterfordern. Zwei weitere Punkte sind wichtig. Zum einen müssen wir bessere Wege finden, um untervertretene Gruppen in die Förderprogramme zu bringen, darin eingeschlossen sind Mädchen und Schüler/innen mit abweichenden Lernstilen ebenso wie Schüler/innen von Rassen- oder ethnischen Minderheiten. Zum zweiten müssen wir gut durchdachte Forschungsarbeit leisten zum möglichst wirksamen Einsatz der neuen und sich verbreitenden Technologien. Begabtenförderung sollte auf diesem Gebiet eine Führungsrolle übernehmen, sonst könnte es soweit kommen, dass wir das Internet als grosse elektronische Enzyklopädie brauchen.

 

Motivation ist ein Schlüsselaspekt Ihres 3-Ringe-Modells. Wie können wir Motivation angemessen beurteilen und bewahren?

 

Das ist eine sehr gute Frage. Motivation muss im Kontext gesehen werden. Ich bin beispielsweise nicht motiviert, ein Forschungsprojekt durchzuführen, bei dem ich nur hier herumsitze. Mein Interesse steigert sich, wenn ich mit einem neuen oder interessanten Thema konfrontiert werde. Deshalb habe ich die Typ I Dimension in mein Triadisches Enrichment Modell eingebaut. Während ich mich mehr und mehr auf das Projekt einlasse, entwickelt es ein Eigenleben, und das weckt die Motivation oder das, was ich «Aufgabenzuwendung» genannt habe. Der Psychologe Gordon Allport nannte es funktionale Autonomie – ein Projekt erzeugt gleichsam seine eigene Energie zwischen der Person und der Aufgabe. Wir bringen Motivation und das Einfahren guter Noten bei jungen Leuten gerne durcheinander. Die Motivation gute Noten zu machen ist eine gute Sache. Aber jene Art Motivation, von der ich im 3-Ringe-Modell spreche (Task Committment), die entsteht nur in einem Kontext. Du musst dich wirklich hineinstürzen und das Problem oder die Aufgabe personalisieren und du musst dich darauf einlassen, und dann gibst du entweder auf oder du arbeitest weiter. Deine Arbeitsmoral steigt, denn du bist wirklich mitten drin im Thema und im Problemzusammenhang. Unsere Forschungsarbeit hat gezeigt, dass Motivation ein allgemeines Konstrukt ist, wie zum Beispiel die Motivation, ein guter Schüler zu sein. Aufgabenzuwendung (Task Committment) aber entsteht und verstärkt sich bei einem bestimmten Schüler immer im Zusammenhang mit einem wirklich vorhandenen Problem. Deshalb betrachte ich Typ III Enrichment als einen wesentlichen Bestandteil eines Förderprogrammes.

 

Habe ich eine Frage vergessen?

 

Manchmal fragen mich Leute, wie ich die Zukunft der Begabtenförderung sehe und ob sie überhaupt eine Zukunft habe. Ich glaube, der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten. Wenn wir Leute haben, die auf allen Ebenen arbeiten, als Praktiker/innen, Verwalter/innen, Koordinator/innen, Staats- und Ministerialbeamte, Lehrerbildner/innen, aktive Eltern und professionelle Anwält/innen und Forschende an Hochschulen, dann begreifen Regierungsangehörige, dass es einen Wert hat, Ressourcen in die Begabtenförderung zu investieren. Durch die gemeinsame Anstrengung von Leuten in vielen verschiedenen Rollen wird gute Arbeit möglich. Und gute Arbeit führt zu öffentlicher Anerkennung, die wiederum zu finanzieller Unterstützung führt. Ich glaube auch, dass wir viele, viele Menschen brauchen, die vollzeitlich oder fast vollzeitlich im Bereich Begabtenförderung arbeiten. Wir können keine nachhaltige Bewegung aufbauen mit Leuten, die nur teilzeitlich oder am Rande involviert sind. Wenn man mich fragt, welches das wichtigste Ziel der Begabtenförderung sei, dann antworte ich immer: es sollte in jedem Schulhaus in unserem Land eine vollzeitlich tätige Spezialistin oder einen Spezialisten für Begabtenförderung geben. Wenn das in unserem Land und in anderen Ländern möglich wird, dann kann die Begabtenförderung ihr volles Potential zur Verbesserung der conditio humana entfalten; und die begabten Kinder der Welt können dazu ihren Beitrag leisten.

 

(Übersetzung: Silvia Grossenbacher, Koordinatorin Netzwerk Begabungsförderung)